Wir verbringen mehrmals halbe Tage auf dem Damm des Alligator Lake. Tiere sehen wir wenige, dafür das Aufsitzrasenmäherrennen zweier Mitarbeiter vom städtischen GaLa-Bau, die sich auf dem langen Damm in ihrer gewaltigen Staubwolke offenbar unbeobachtet fühlen, was irgendwie auch witzig ist.
Was wir auch noch nie getan haben, ist, die Marion Street einmal aus Downtown hinaus in südlicher Richtung zu fahren. Bislang zog es uns immer nur Richtung Georgia nach Norden, aber dieser Teil der Stadt, der am südwestlichen Ufer des Alligator Lake liegt, ist erstaunlich nobel und bietet einige nette Überraschungen.
Fast noch schöner als Tootsies finden wir diese liebevoll gestaltete ehemalige Tankstelle.
Je weiter man nach Süden kommt, desto höher die Dichte an Villen auf den Ufergrundstücken. Die meisten sind Kolonialstil, weiß und mit klassizistischen Säulen und Ornamentik. Mir gefällt aber am besten ein niedriger Bungalow im Spanish Revival Stil, mit Flachdach und niedrigem Parapet, hinter dem man sicher wunderbar sitzen, über den See blicken und einen Sundowner trinken kann. Das Haus ist zu verkaufen, so daß ich ohne Aufsehen zu erregen bis auf die Auffahrt gehen und ein paar Fotos machen kann. Im Garten eine Live Oak von gewaltigen Ausmaßen.
Sicher sind die Grundstückspreise hier nicht zu vergleichen mit der Golf- oder Atlantikküste, aber ein Haus wie dieses wird auch hier sicher im siebenstelligen Bereich gehandelt. Das bleibt also genauso ein Traum wie eine der Corvetten vom Motelparkplatz.
Daß wir hier so mit dem Auto herumcruisen erregt sofort Aufmerksamkeit, einige in den Vorgärten herumwerkelnde ältere Damen unterbrechen ihre Tätigkeit und starren uns an, die Hände fest um die Umkrauthacke geschlossen. Das ist auch nicht nur Neugier über ein unbekanntes Auto, das sieht schon eher wachsam aus, und wie wir wenig später lesen werden, haben sie ihre Gründe.
Der Lake City Reporter, die hiesige Tageszeitung, zeichnet sich durch einen humorvollen, oftmals süffisanten Schreibstil aus, weshalb wir uns angewöhnt haben, ihn regelmäßig zur Frühstückslektüre zu machen. Der Zeitung entnehmen wir nicht nur die Florida erwartenden Veränderungen, wie den massivsten Bevölkerungszuwachs aller US-amerikanischen Bundesstaaten mit allen damit einhergehenden Problemen, die Infrastruktur und die Lebenshaltungskosten sowie das zwischenmenschliche Zusammenleben betreffend, sondern auch die lokalen Ereignisse, die in den Fernsehnachrichten vermutlich keine Erwähnung finden würden.
Und dazu gehört ein wenige Tage nach unserer Marion Street-Tour genau dort stattgefundenes nächtliches Drive By-Shooting, vermeintlich wahllos in die Fenster der anliegenden Häuser hinein. Wir erfahren während unseres Aufenthaltes leider nicht mehr, ob der Fall eine Aufklärung gefunden hat. Einmal mehr aber macht es uns deutlich, welche Auswirkungen die anstehenden Gesetzesänderungen des konservativen Gouverneurs DeSantis, das Waffenrecht vollkommen liberalisieren und Waffen ohne jeden Background-Check und Registrierung an jedermann ausgeben zu wollen, haben würde. So heimisch wir uns in Lake City fühlen und so schön die Vorstellung eines kleinen Hauses irgendwo am Stadtrand oder einer der kleinen Gemeinden im Columbia, Gilchrist oder Suwannee County sein mag, abschreckend ist das schon.
Immer mal wieder ist es uns passiert, daß wir, gerade als Deutsche und Kriegsverlierer, hier gefragt wurden, ob uns die Tatsache, uns nicht mit einer Waffe verteidigen zu dürfen, nicht einschränken würde. Mir hingegen ist die Vorstellung, mit der beständigen Bedrohung durch eine Schießerei, sei es nun kriminellen Hintergrunds oder aufgrund einer psychischen Episode des Schützen, leben zu müssen, vollkommen fremd. Es erklärt aber für mich auch die extreme Höflichkeit, das häufig auffallend defensive Verhalten der Menschen im Umgang miteinander, und eben diese Wachsamkeit in der eigenen Wohnumgebung, die die Menschen hier zeigen.
So vergehen die Tage in Lake City und ein feines Restaurant für das geplante Essen ist inzwischen auch gefunden. Ich erfahre nicht, welches der Mister ausgesucht hat, es soll eine Überraschung sein. Also werfen wir uns am späten Freitagnachmittag in unsere besten Klamotten und fahren los. Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen, als wir auf dem Parkplatz vor einem langgezogenen Gebäude einfahren, das zur Hälfte aus einem Olive Garden und einem Longhorn Steakhouse besteht. Ich habe nichts gegen mediterrane Küche, aber das Steakhaus wäre mir lieber. Und wie ich den Mister kenne, ihm auch.
Und natürlich wird es das Steakhaus. Ich war noch nie in so einem Lokal in den USA und bin gespannt. Die Dekoration ist texanisch, silberne Gürtelschnallen in einer Vitrine und großformatige Gemälde von Cowboys mit Rindern, die natürlich alle Longhorns sind, ist ja klar.
Da wir unser Restaurantessen meist nicht fotografieren, für die, die es interessiert, hier ein paar Fotos aus dem Netz. Aber da die Longhorn Steakhäuser ja eine Kette sind, sehen die ja vermutlich sowieso alle gleich aus.
https://www.google.de/maps/uv?pb=!1s0x8 ... ip6BAh0EAM
Wir werden von einer jungen Dame "geseated" und schon auf dem Weg zum Tisch heftet sich unser Kellner an unsere Fersen. Wir sind relativ früh da, daß wir keine Reservierung hatten, ist somit kein Problem, es sind kaum Leute da. Am Nachbartisch sitzt ein Mann unseres Alters, der sich hier kleidungstechnisch gut einfügt.
Ansonsten genießen wir die ungeteilte Aufmerksamkeit unserer Bedienung. Ethan, stellt er sich vor, und kaum daß er uns zwei Sätze hat sagen hören, verkündet er überschwänglich, wie sehr er unseren Akzent liebe, woher wir denn wohl seien. Deutschland, sagen wir, Berlin. Ethan macht kugelrunde Augen, wie, sagt er, ihr seid aus Berlin und was macht ihr dann hier, in dieser gottverlassenen Gegend? Wir mögen das hier, sagen wir, aber ich kann ihm die Frage irgendwie nicht verübeln, denn Ethan selbst sieht aus, als gehörte er überhaupt nicht hierher.
Während er abzischt, um uns die Speisekarten zu holen, frage ich den Mister, ob er nicht auch findet, daß er aussieht wie ein Surfer aus Malibu und nicht wie ein Bewohner des nördlichen Florida. Naja, sagt er, genau genommen sieht er aus wie ein Klon von Leif Garrett. Jetzt, wo er es sagt, sehe ich es auch. Und irgendwie haben wir beide recht, denn immerhin hat Leif Garrett ja mal Surfin USA von den Beach Boys gecovert, und hier für diejenigen, die zu jung sind, um sich daran zu erinnern, von wem hier die Rede ist:
https://www.youtube.com/watch?v=Mij_LP3ISdc
Die Speisekarten sind eigentlich zu gut um wahr zu sein. Jede Menge Rinderfilet und Hummer, eine riesige Auswahl an Beilagen, unter anderem sogar Spargel. Ethan kehrt zurück um die Bestellungen aufzunehmen und erklärt erneut, wie sehr er unseren Akzent liebe. Seinen gedehnten Südsaatenslang liebe ich auch, die Worte dehnen sich wie zähflüssiger Honig.
Auch sonst ist Ethan die personifizierte southern hospitality. Groß wie er ist, müßten wir uns den Hals verrenken um ihn anzusehen, also kauert er sich neben den Tisch, um mit uns auf Augenhöhe zu sein. Unsere Bestellung dauert aufgrund der kleineren Verständigungsschwierigkeiten und unserer Fragen auch entsprechend lange, das muß anstrengend für ihn sein in dieser gehockten Haltung, ich bin beeindruckt, Ethan geht eindeutig „the extra mile“ für seine Gäste.
Ich frage nach dem Spargel. Ja, der sei grün, sagt er, wie er denn sonst sein solle? Na weiß, sage ich. Und meine vor der Reise offengebliebene Frage, ob man hier weißen Spargel kennt, findet nun ihre Antwort, denn Ethan fragt: White Asparagus, is that a thing?
Auch ohne Spargel lassen wir es richtig krachen und bestellen die Sahnestücke der Speisekarte. Grob im Kopf überschlagen werden das 150 Dollar, aber wir machen sowas nicht andauernd, also darf das jetzt auch mal sein.
Während wir aufs Essen warten, dreht sich der Herr am Nachbartisch zu uns um. Er entschuldigt sich, er habe zufällig gehört, was wir mit dem Kellner gesprochen hätten, wir seien also aus Deutschland. Er sei auch mal in Deutschland gewesen, in Stuttgart, also die Autobahnen und daß es kein Geschwindigkeitslimit gebe, das habe ihm schon Respekt eingeflößt. Verstehen wir gut, sagen wir, wir haben dieses Jahr nur einen Spark, da flößen einem die Rams und Trucks auch Respekt ein, wie ein Kindergartenkind zwischen einer wildgewordenen High School-Footballmannschaft komme man sich vor. Das findet er lustig. Wir plaudern ein Weilchen über Deutschland und Florida, und irgendwann stellt er dann die selbe Frage wie Ethan zuvor: Was uns denn ausgerechnet nach Lake City verschlagen hätte. Wir sagen unsere üblichen Sprüchlein auf, wir lieben die Wälder, die Quellen, die alten kleinen Ortschaften, den Suwannee und den Santa Fé. Deswegen sind wir hier, nicht wegen der Maus. Wir lieben es hier, sagen wir. Das berührt ihn sichtlich, er beugt sich zu uns herüber, legt sich die Hand aufs Herz und sagt: "and we love to have you here" . Und es klingt aufrichtig. Wir bedanken uns, wünschen uns gegenseitig weiter eine gute Zeit und die üblichen Aufforderungen, auf sich aufzupassen werden ausgetauscht. Er lasse uns jetzt unser Essen genießen, sagt er zum Abschied.
Kaum ist er weg, kommt unser Essen auch schon und es sieht so gut aus, wie es sich auf der Speisekarte las. Auf meinem 250 Gramm-Filetsteak liegt ein Hummerschwanz und glänzt vor Safranbutter. Gerade als wir die kunstvollen Gebilde auf unseren Tellern zerstören wollen, kommt Ethan an unseren Tisch, lehnt sich gegen die Einfassung unserer Nische und starrt nachdenklich aus dem Fenster auf den Parkplatz. Ob wir den Mann eben gekannt hätten, fragt er. Nein, sagen wir, nie zuvor gesehen. Ok, sagt Ethan, ich wollte euch nur sagen, er hat eben beim Rausgehen eure Rechnung bezahlt.
Es wird ein paar Tage dauern, bis wir diese unerwartete Großzügigkeit verarbeitet haben.
Damit es nicht so aussieht, als würden wir nur fröhlich herumschmarotzen, bestellen wir auf eigene Rechnung noch ein Stück Schoko-Käsekuchen als Dessert. Es paßt zwar kaum noch rein, aber es ist so lecker. Und daß Ethan ein fürstliches Trinkeld bekommt, versteht sich von selbst.
Und wenn diese Begegnung auch die besonderste und einprägsamste der ganzen Reise bleiben wird, ist sie doch nur der Auftakt zu einer ganzen Reihe von interessanten Begegnungen, die wir in den kommenden Tagen haben werden, und aus denen sich zum Teil dauerhafte, aktuell natürlich nur virtuell gepflegte, Bekanntschaften ergeben.
Die ersten Kontakte hat der Mister bereits in der letzten Woche im Anschluß an eine seiner Dollarläden-Touren geknüpft, während ich im Pool herumdümpelte. Wie immer Freitags findet auf dem hiesigen Hardees Parkplatz ein Oldtimertreffen statt und diesmal war unter den ausgestellten Autos ein besonders ungewöhnliches Auto, das er mir nun zeigen will.
Nach dem Essen fahren wir also zum Hardees. Neu ist, daß vor dem Burgerladen ein älterer Mann den DJ gibt und zum Alter der Autos passende Musik spielt, vor allem Doo-Wop-Sachen, die ziemlich genau meinen Musikgeschmack treffen. Ich mag nicht nur die alten Autos, sondern auch diese Musik und von daher gefällt mir die Ergänzung.
Manche der Wagen, die heute gezeigt werden, sind mir seit der letzten Reise noch gut in Erinnerung geblieben.
Das einzige zu diesem Wagen passende Lied spielt der Open Air-DJ aber leider nicht.
https://www.youtube.com/watch?v=v0KpfrJE4zw
Das Highlight ist jedoch ein 71er Chevy Nova, ein Dragster mit 9,4 Liter Hubraum, 700 PS und
Straßenzulassung.
Wenn man den Wagen oberflächlich betrachtet, sieht man nicht sofort, was drinsteckt. Aber da der Mister sich mit dem Besitzer bereits am letzten Freitag angefreundet hat, bekommen wir die Exklusivführung.
Überrollkäfig, Gestänge seitlich ausklappbar, damit man überhaupt einsteigen kann.
Verschraubbarer Tankdeckel:
Und last but not least die Wheelie Bars
Daß so ein Fahrzeug in Deutschland niemals, never ever eine Straßenzulassung bekäme, belustigt ihn. Und uns zuliebe läßt er den Dragster dann auch mal an, ab da kann der Oldie-DJ auf der anderen Parkplatzseite einpacken, den hört man nicht mehr.
Den Besitzer des Dragster schätze ich so auf Mitte 70. Er fährt den Wagen regelmäßig auf der Straße, aber schon lange keine Rennen mehr. Trotzdem kommt mir der Gedanke, daß er so als Insider wissen könnte, ob Floridas Dragsterlegende Big Daddy Don Garlits noch lebt. Ja, meint er, er denke schon, genau wisse er das aber nicht.
Später lese ich dann nach, daß Don Garlits sogar noch relativ aktiv in der Dragsterszene ist. Sein Museum haben wir seit über 10 Jahren nicht mehr besucht, und er war seinerzeit schon hoch betagt. Er fährt auch selbst keine Rennen mehr, aber auf youtube findet sich ein Video von Anfang Mai dieses Jahres, in dem er ziemlich munter mit dem Kerosinkännchen um die aktuelle Swamp Rat herumläuft.
https://www.youtube.com/watch?v=LlQdo46PifM
(bei Minute 3:30 wird erst gezündet, falls jemand das ganze Vorgeplänkel vorspulen möchte)
Irgendwann müssen wir doch mal wieder hin.
https://garlits.com/